Dienstag, 23. Februar 2016

Was vermag "Rotkäppchen" über "Jin-Roh" zu sagen

Im Verlauf des Filmes Jin-Roh - der hier oder hier direkt gesehen oder gekauft werden kann - wechselt die Zuschreibung welche Figur mit der des Rotkäppchens, des Wolfes und des Jägers vom Publikum assoziiert werden soll beständig. Dies geschieht über die dargebotenen intertextuellen Referenzen, was bereits verschiedene Betrachtungen dargelegt haben. 
Was jedoch noch hervorzuheben ist, ist der Umstand, dass es zahlreiche und hierbei sehr verschiedene Rotkäppchenversionen gibt, unter ihnen schriftlich und mündlich überlieferte. Es sind weniger die schriftlich fixierten Fassungen beispielsweise von Charles Perrault sowie von Jacob und Wilhelm Grimm, sondern vielmehr die oral tradierten Varianten, auf denen das in „Jin-Roh“ vermittelte Märchen basiert. Diese Varianten sind in einem weitaus größeren Maße mit sexualisierten Schilderungen und kannibalistischen Elementen durchsetzt, als ihre niedergeschriebenen Vertreter, aber auch bei weitem unbekannter. (Der zweite Teil dieses Blogeintrags wird die groben Unterschiede der jeweiligen Märchenfassung erläutern.)
Der Filmwissenschaftler Sascha Koebner sieht in seiner Auslegung des Filmes, in dem sich „der Wolf [...] die Haut des Menschen überstreifte (In: A.Friedich (Hrsg.): Filmgenres. Animationsfilm. S.268) und im Unterschied zum Grimmschen Märchen überlebte, eine Erzählung vom misslungenen Versuch des Wolfes seine tierische Natur abzulegen und ein Mensch zu werden. Koebner verweist in seiner Argumentation zuvor ebenfalls auf die Aussage von Fuses militärischem Ausbilder: Nur in diesem alten Märchen, das von Menschen verfasst wurde, wird der Wolf vom Jäger erschossen. Diese vom Film direkt evozierte Deutung scheint vordergründig stringent zu sein, da ebendort nicht auf die Märchenfassung der Grimms mit dem rettenden Jäger Bezug genommen wird. 
© splendid film

Aber weshalb rekurriert „Jin-Roh“ dann auf die brutaleren Fassungen des Märchenstoffs und nicht auf die renommiertere Erzählung Perraults, in der ebenfalls der Wolf das Mädchen frisst, ohne selbst getötet zu werden. Die Antwort ist in einer anderen Lesart des in diesem Anime Gezeigten zu finden, die aber zugleich bereits im Titel dieses Filmes Jinrō (人狼, Menschenwolf) enthalten ist.  
Über den Märchenkomplex wird die Aussage dieses Animes greifbar, so viel ist richtig, jedoch gibt es neben jener Auslegung, die sich auf die Dreiteilung der Figurenkonstellation (Wolf, Mädchen, Jäger) bezieht, ebenfalls eine gangbare Auslegung, die allein über die Zweiteilung Mensch und Wolf ergründet werden kann. Sie geht aber hierbei nicht von der schon skizzierten Interpretation des Wolfs aus, der ein Mensch werden möchte.
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Für diese letztere Interpretation, die sich weit mehr am Märchenstoff orientiert, ist von besonderer Bedeutung, dass das gesamte Narrativ des Märchens sich auf die Bettsequenz konzentriert. Denn egal mit welcher Fassung man sich befasst, der eigentliche Fokus liegt stets auf dem Verschlingen des Kindes.
Im Anime entspricht dieser finale Moment ebenfalls der Tötung der Figur des Rotkäppchens (Amemiya) durch den Wolf (Kazuki Fuse), selbst wenn er diesen Mord nicht begehen möchte. In dieser Situation ist er durch die Gegebenheiten, welche der Film zuvor entworfen hat, gezwungen, wider seines Willens, dieses Leben gewaltsam zu beenden. Damit Fuse und die Wolfsbrigade weiter nur als ominöses Gerücht existieren können, ohne dass es eine begründete Evidenz für ihre Existenz geben kann, muss Amemiya sterben, denn erst so verstummt sie endgültig, wie alle zuvor getöteten Männer, die in mancher Deutung als Jäger ausgemacht wurden
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Die Notwendigkeit zu überleben bedingt diese Morde, ist aber auch die Grundlage für den Machtkampf der Abteilung für Sicherheit der Hauptstadtpolizei und der Spezialeinheit Kerberos, die sich im Kleinen in der Figurenkonstellation von Fuse und Henmi zeigt. Gleichfalls ist die Polarisierung Staatsgewalt gegen Zivilbevölkerung in diesem Spannungsfeld anzusiedeln, die sich ihrerseits im Gegensatz vom einerseits verdreckten, überfüllten und beengten Erscheinungsbild der Stadt und dem andererseits sauberen, leeren und groß dimensionerten Regierungsgebäuden(S.Koebner: „Jin-Roh“. In: A.Friedich (Hrsg.): Filmgenres. Animationsfilm. S.267) manifestiert.
In der Konfrontation mit dem Gegenüber, die eben allein durch den Wunsch des eigenen Fortbestehens entstehen kann, wird das einstmalige menschliche Antlitz durch Tötung zu einem Monstrum. Dieser Sachverhalt bedingt erst den Rekurs auf die gewaltsamere Rotkäppchenversion, die dieser Anime dem Publikum offeriert. Denn es geht hierbei vor allem um den kannibalistischen Zug dieser Variante. Nicht um die Perraultsche Warnung junger Damen vor wollüstigen Männern oder jenem Grimmschen Plädoyer, dass man sich an Regeln halten muss. 
Das Verschlingen  wird durch das kannibalistische Element, welches dieses Rotkäppchenmärchens enthält, in den antiken Bedeutungszusammenhang des Stärkerwerdens durch den Verzehr der Vorfahren gerückt. Rotkäppchen verspeist ihre Mutter und erst vermittels dieses Blicks auf das Märchen via einer Bezugnahme auf die römische beziehungsweise griechische Mythologie, lässt sich das saturnische Fressen auch im Vertilgen der Enkelin durch den (groß)mütterlichen Wolf in diesem Anime fassen. Der Mensch frisst sich selbst. 
Der Mensch ist des Menschen Wolf geworden, um es mit dem Zitat "homo homini lupus" zu sagen
Schließlich erweisen sich alle in diesem Anime geschilderten Machtkämpfe als eine Repräsentation dieses Schachverhaltes, angefangen von der dort geschilderten Besetzung Japans, mit ihrer Verkörperung in den Streitigkeiten zwischen Staatsmacht und Bevölkerung, über den Machtstreit von der Abteilung für Sicherheit der Hauptstadtpolizei und der Spezialeinheit Kerberos, bis zum finalen emotionalen Konflikt von Amemiya und Fuse.
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Somit existiert neben der Deutung, dass der Wolf nicht lange Mensch sein kann, auch ebendiese Interpretation, die besagt, dass der Mensch nicht immer Mensch bleiben kann.


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